Lehrerinnengesundheit

Lehrerinnengesundheit - warum gerade Lehrerinnen die Top-Burnout-Kandidaten sind oder: warum „mehr Stunden“ zu weniger Unterricht führen werden

 

Es klingt verlockend einfach, den Mangel an Schulen mit einer Erhöhung der Wochenarbeitszeit der Lehrerinnen und Lehrer zu beheben. Zu schön, um wahr zu sein. Die aktuellen Ideen, den Kampf gegen den Lehrerinnenmangel zu gewinnen, halte ich für aussichtslos, die zugrunde liegende Vorstellung von den Lebensrealitäten der Lehrkräfte wirkt mindestens naiv, fast schon etwas borniert. 

 

Seit gut neun Jahren bin ich als hausärztlicher Internist tätig. Zuvor war ich zehn Jahre als Amtsarzt im Gesundheitsamt tätig und habe bereits dort viel mit Lehrerinnengesundheit zu tun gehabt. - Das ist an dieser Stelle nicht gegendert, sondern bewusst so geschrieben, weil Frauen im Lehrerberuf besonders gefährdet sind, dazu später mehr. Als Hausarzt betreue ich natürlich auch Lehrerinnen und Lehrer. Viele haben mit einer Teilzeitstelle einen Weg gefunden, Beruf und Familie in einer Balance zu halten. Die Stellungnahme der Landesregierung, dass solche Stundenreduzierungen ab dem kommenden Schuljahr weitgehend wegfallen sollen, lässt viele Betroffene aktuell verzweifeln.

 

Die Not an den Schulen ist groß. Und wie fast immer in der Politik kommt eine Lösung „von oben“, die zwar auf den ersten Blick entschlossen und plausibel wirkt, jedoch bei den Betroffenen und bei näherer Betrachtung Kopfschütteln auslöst.

Ein Mix aus „Rekrutierung von Seiteneinsteigern“, „einer Werbekampagne“ (für 1.000.000 Euro), „Senkung der Sprachhürden für Ausländer“, „leichteren Abordnungen an Problemschulen“, „größere zumutbare Wegstrecken bei Versetzungen“, Streichung „unbegründeter“ Teilzeitregelungen, … - die Liste klingt nach Entschlossenheit bei der Bekämpfung des Unterrichtsmangels. Immerhin will man „aktuell“ noch nicht über verpflichtende Mehrarbeit sprechen, bietet aber Berufseinsteigern an, bezahlte Mehrarbeit zu leisten. 

Das alles soll die Not lindern, die durch die aktuell 8.000 offenen Stellen an den Schulen in NRW herrscht. 

Als Amtsarzt habe ich in unzähligen Gutachten -unterstützt durch psychologische und psychiatrische Zusatzgutachter- bei vielen Lehrerinnen und Lehrern eine Dienstunfähigkeit diagnostizieren und attestieren müssen. Diese Menschen wurden vom System ausgelaugt und dann ausgespuckt. Eine Wiederherstellung der Gesundheit ist auch nach Jahren bei den Wenigsten gelungen. Damals gab es noch -wie in vielen Bereichen- unproblematisch personellen Ersatz. Die einzelnen Schicksale und die Pensionskosten haben niemanden interessiert. 

Inzwischen berichten mir gestandene Lehrerinnen und Lehrer beruflich wie privat, dass die Bedingungen damals im Vergleich zu heute „harmlos“ waren. Die Sorgen der Betroffenen sind nachvollziehbar: Die beruflichen und privaten Belastungen haben sie für sich zu einem Zeitpunkt austariert, als die zahlreichen Mehrbelastungen der letzten Jahre noch nicht absehbar waren. Die zusätzlichen Belastungen im Schulalltag durch die drei Großbaustellen Inklusion, Integration und die Pandemie trafen die Betroffenen ohne Vorbereitung und in der Regel ohne richtige Unterstützung. Und ohne Kompensationen. Diese Probleme wurden und werden in die Schulen „von oben nach unten durchgereicht“. Oft ohne konkrete realistische Handlungsempfehlungen. Es wird schon irgendwie gehen. Wie immer.

 

Burnout: Wenn aus MÖGEN MÜSSEN wird…

In den internationalen medizinischen Systematiken zur Diagnosekodierung ist „Burnout“ nicht als eigene Diagnose vorgesehen. Am nächsten kommt den Beschwerden, unter denen erschöpfte Lehrerinnen und Lehrer leiden, die Diagnose einer Erschöpfungsdepression. Manchmal sind die Diagnosekriterien einer „generalisierten Angst“ erfüllt. 

Oft werden Depressionen übersehen und zwar besonders dann, wenn sie  nicht dem erwarteten Beschwerdebild mit Abgeschlagenheit und Erschöpfung entsprechen. 

Der unbewusste seelische Abwehrmechanismus der Betroffenen, die Gefühle von Abgeschlagenheit, Hilflosigkeit und Trauer mit Aktivität zu überdecken, mündet oft in einer „Agitiertheit“. Und so laufen die Betroffenen geradezu in ein Burnout. Häufig ohne, dass dies den Betroffenen oder ihrer Umgebung bewusst ist. Weil nur 10 bis 15 Prozent unserer seelischen Vorgänge bewusst ablaufen, kommt es immer wieder dazu, dass die Betroffenen selber gar nicht merken, was mit ihnen geschieht.

Ein Burnout lässt sich beschreiben als Kombination aus Angst vor permanent unangenehmen Gefühlen und körperlicher Abgeschlagenheit. 

 

Wer verstehen will, warum es in den letzten Jahren zu einer solchen stetigen Zunahme der Krankheitslast gerade im psychischen Bereich kommt, muss sich mit dem Begriff „Stress“ beschäftigen. Dabei ist wichtig zu wissen, dass Stress entsteht, wenn Menschen empfinden, dass sie eine Belastung nicht mehr bewältigen können. Unerheblich ist dabei, ob sie es wirklich nicht können, oder nur glauben, es nicht zu können. 

Zu den häufigsten Ursachen von Stress zählen neben äußeren Ursachen und belastenden Aufgaben auch psychosoziale Ursachen. Viele Lehrerinnen und Lehrer berichten, dass sich die äußeren Rahmenbedingungen im Bildungsbereich in den letzten Jahren in mehrfacher Hinsicht massiv verschlechtert haben. Exemplarisch werden die Inklusions- und Integrationsprobleme an den Schulen genannt, für die die Akteure vor Ort sich meist nicht ausgebildet und ausgerüstet fühlen und die somit klassische Ursachen für externen Stress sind. 

Belastende Aufgaben sind ebenfalls eine häufige Ursache für Stress. Die pandemie- und migrationsbedingten Mehraufgaben haben bei einer bis dahin schon massiven Belastung der Lehrkräfte eine erhebliche Mehrarbeit mit sich gebracht und zwar ohne, dass dafür irgendetwas weggefallen oder in irgendeiner Weise eine Kompensation erfolgt ist. Exemplarisch ist seit einem Jahr die Beschulung der zahlreichen „Nichtsprachler“ aus der Ukraine zu nennen. Diese wurden  -von oben verordnet- einfach auch noch in Klassen gesteckt, denen Lehrerinnen und Lehrer vorher schon kaum noch gerecht werden konnten. Und zwar zu einem Zeitpunkt, als mehr als zwei Jahre Pandemie die Schulen mürbe gemacht und erschöpft haben. 

 

Weitere bekannte Stressfaktoren sind unter dem Begriff „psychosoziale Ursachen“ zusammengefasst. Sie sind aktuell bei den Menschen, die in der Praxis Hilfe suchen, Hauptursache der Dekompensationen. 

Unter diesem Oberbegriff versteht man einen ungünstigen Mix aus Ängsten vor Überforderung, arbeitsplatzbedingten Ängsten, finanziellen Ängsten, Beziehungsängsten, Mobbing, steigendem Druck. Dies ist oft verbunden mit geringen eigenen Möglichkeiten, Einfluss auf die Lösung der Probleme zu nehmen. Bei Lehrkräften kommen oft mehrere der genannten Faktoren zusammen. Bisweilen kommt auch noch eine geringe individuelle Problemlösungskompetenz hinzu. 

 

Zusätzlich zu den „belastenden Aufgaben“, über die Lehrerinnen und Lehrer schon lange berichten, haben sich in den letzten Jahren aus ärztlicher Sicht gravierende Verschlechterungen ergeben. So berichten Lehrkräfte glaubhaft über fehlende Kommunikation und Organisation. Andererseits gibt es oft überschießende, zu zahlreiche, nicht umsetzbare, teils unsinnige und unverständliche Regelungen, die mitunter extrem widersprüchlich sind. 

Ein häufig genanntes Beispiel: Wo gestern noch strenge Abstandsregelungen wegen der Pandemie akribisch eingehalten und Kinder abgewiesen werden mussten, sind diese Regeln durch den Ukraine Krieg plötzlich nicht mehr wichtig und plötzlich zusätzliche Kinder da. 

 

Viele Lehrerinnen und Lehrer beschreiben nachvollziehbar ein Missverhältnis zwischen Aufgaben, Verantwortung und Ressourcen.

 

Zu den „äußeren Faktoren“ zählen exemplarisch die Lärmbelastung in der Schule, die Einschränkungen durch Maskenpflicht, permanente Störungen, permanente Erreichbarkeit. 

 

Stress ist -wie Salz in der Suppe- eine Frage der Dosierung. Das Stress in bestimmten Situationen und Dosierungen gut sein kann, kennen wir alle: Sogenannter „Eustress“ oder „positiver Stress“, der hilft, Situationen zu bewältigen und Ziele zu erreichen.

Wenn die Stresskurve zu sehr ansteigt, kommt nach dem positiven der negative Stress („Disstress“). Dann sinkt die Leistungskurve und eine weitere Belastung durch Disstress hat negative gesundheitliche Folgen.

 

Wenn aus  „mögen“ „müssen“ wird.

Kommt diese Störung vom Patienten selbst, können Zwangsstörungen oder eine Sucht entstehen. 

Bei Lehrkräften ist die Ursache dagegen nicht ursächlich in der Psyche der Betroffenen zu suchen, sondern von außen bedingt. Die zu hohen Belastungen sind nicht selbstgewählt bzw. selbst steuerbar. Dies zu verstehen ist sehr wichtig, wenn über die Beschneidung der einzig verbliebenen Belastungssteuerungsmöglichkeit, nämlich die Stundenreduktion, diskutiert wird. Streicht man den Lehrerinnen die Option einer Teilzeitstelle und kündigt durch ein Dementi („Aktuell wird darüberhinausgehend nicht über eine Pflicht zur Mehrarbeit nachgedacht“) eine weitere Erhöhung der Belastung an, kann dies gravierende gesundheitliche Folgen haben. 

 

„Ich schaffe das nicht mehr“, hören wir Ärztinnen und Ärzte zunehmend auch von gestandenen Lehrerinnen. Aus der Stressforschung ist bekannt, dass bereits der Gedanke -unabhängig von der objektiven Belastung- ausreicht, um die Betroffenen bzw. deren Nervensystem in den Alarmzustand zu versetzen. Setzt jetzt keine Hilfe ein, droht eine Angstspirale, die in der „Angst vor der Angst“ mündet. Diese verselbstständigt sich als „Angst zu versagen“, „Angst den eigenen beruflichen Idealen und Ansprüchen nicht mehr gerecht zu werden“, „Angst die sich ständig ändernden und steigernden Anforderungen des Dienstherrn nicht mehr erfüllen zu können“, „Angst beruflich zu scheitern“. Zunehmend macht sich dann auch eine Angst vor Veränderung breit, weil Veränderung als Verschlechterung der Bedingungen erlernt wurde. Schließlich entsteht die „Angst vor der Angst“, die dann noch einmal schwieriger anzugehen ist und die Betroffenen zusätzlich einschränkt, oft geradezu lähmt. 

 

Es trifft die Falschen. 

Bitte verstehen Sie mich richtig: ich wünsche niemandem ein Burnout.  Um zu verstehen, was an den Schulen passiert, ist es wichtig zu wissen, wen es am ehesten trifft. Wird über psychische Belastungen bei Lehrerinnen und Lehrern gesprochen, wird meist vermutet, dass es die leistungsschwachen Lehrkräfte trifft, wenn von Burnout die Rede ist. Das Gegenteil ist der Fall und das macht das Problem für die Schulen noch gravierender. Denn wenn nun auch noch zahlreiche Leistungsträger wegbrechen, katalysiert das die Bildungskatastrophe herbei. Die inneren Glaubensmuster Perfektionismus und Aktivismus gelten als Risikofaktoren für die Entwicklung von Burnout und Erschöpfungsdepression. Gerade die, die sich über Leistung definieren und ihr Selbstwertgefühl daran fest machen, wie sie von außen beurteilt werden, flüchten sich in die Aktivität. Treten mehr und größere Probleme auf, muss die eigene Leistung immer besser ausfallen. Erfolg ist für sie eben Stress. 

Das ist keine Befindlichkeit, sondern ein physiologischer Vorgang. Stresshormone werden freigesetzt und haben Herz-Kreislauf-Reaktionen, Muskelverspannungen etc. zur Folge. Die Stresshormone kann man messen, was zu selten erfolgt. Wird gemessen, so zeigen sich zu Beginn der Überlastung erhöhte Cortisolspiegel im Cortisol-Tagesprofil, während im weiteren Krankheitsverlauf dann ein Abflachen zu verzeichnen ist. Das ist für die Betroffenen wichtig zu sehen, um aus unseligen Gedankenschleifen herauszukommen, und ein ständiges „ich schaffe das nicht mehr“ los zu werden. 

Der „Innere Dialog“ ist entscheidend. Man redet am meisten mit sich selbst, meist unbewusst. Und diese Worte formen die Wahrnehmung und die Wahrnehmung wiederum die Realität. Es ist hinlänglich erforscht, dass beispielsweise Optimismus zu einem stabileren Immunsystem führt, während depressive oder ängstliche Gedanken eine Immunsuppression zur Folge haben. 

 

Kämpfen oder Fliehen. Das sind die beiden evolutionär tief in uns verankerten Verhaltensoptionen, wenn wir uns im Alarmzustand befinden. Können wir weder kämpfen noch fliehen, sind körperliche und psychische Fehlregulationen die Folge. Beispielsweise fällt es im Alarmzustand sehr schwer, bewusst tief zu atmen. 

Das für die Regulation von Organvorgängen zuständige sogenannte „vegetative Nervensystem“ gerät ins Ungleichgewicht. Körper und Seele finden keine Balance mehr und es fällt den Betroffenen zunehmend schwer, Ihre Situation klar zu reflektieren und Lösungen zu erarbeiten. 

 

Externe Hilfe ist nötig, aber zunehmend schwer zu bekommen. 

Egal ob ambulante Gesprächstherapie, stationäre Behandlung oder Reha: Als Folge der Pandemie ist es zu einer weiteren Verknappung der schon vorher angespannten Versorgung psychisch Kranker gekommen. 

 

Deshalb sind gerade Lehrerinnen die Top-Burnout-Kandidaten 

Es ist schon immer noch ein „Frauen-Ding“, sich für alles verantwortlich zu fühlen. Wenn dann ein Beruf dazu kommt, bei dem die Grenze zwischen Beruf und Privatleben schwer zu definieren ist, wird es oft kritisch. Auch Psychologinnen und Ärztinnen haben oft das Problem, zu viel Arbeit „mit nach Hause“ zu nehmen. Sie haben kein Arbeitszimmer in der Schule und oft werden zuhause nach der Versorgung der Familie die Unterlagen auf dem Esstisch ausgebreitet und es geht wieder weiter mit dem Thema Schule. 

Hinzu kommt das, was ich die „Amazonisierung“ nenne: Immer mehr, immer schneller. Eine WhatsApp hier, eine E-Mail dort: Das Kommunikationsverhalten hat zu einer zumindest gefühlten ständigen Erreichbarkeit geführt. Dies betrifft natürlich viele Berufe, was es für Lehrkräften jedoch nicht besser macht.

Lehrerinnen sind DIE Burnout-Kandidaten: Klassengrößen und Arbeitszeiten wie seit Jahrzehnten, ohne Anpassungen wie in vielen anderen Berufen. Zusätzlichen Belastungen durch mehr administrative Dinge, Lernstanderhebungen, zentrale Prüfungen, Statistiken,… Es kommt, so berichten mir erfahrene Lehrerinnen, immer nur mehr dazu, ohne dass etwas dafür wegfällt. - Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. 

Nette Anekdote: Einen Schulleiter fragte ich einmal, welche Schule er leite. Er antwortete mir: „Ich betreibe eine Kantine und organisiere eine Ganztagsbetreuung, nebenbei noch eine Sozialstation und eine Behindertenwerkstatt - ach ja, ne Schule ist auch dabei.“ - Er hat das bewusst provokant formuliert, um die Botschaft deutlich zu machen: Lernen ist längst nicht mehr das Kerngeschäft der Schule. Vielleicht sind da die aktuell gesuchten Quereinsteiger hilfreich. Andererseits hört man immer wieder, dass die regulären Lehrkräfte viel an Ausbildung und „Trouble-shooting“ für die nicht pädagogisch ausgebildeten teils Fachfremden an zusätzlicher Arbeit mit leisten müssen.

Ein anderes Beispiel berichtete mir eine Lehrerin in Teilzeit. An Ihrer Schule läuft es „gerade noch irgendwie so, im Vergleich sogar noch ganz gut“. Mehrere Kolleginnen bangen nun um Ihre Teilzeitstellen und sind in Sorge, dass alle aufstocken und eine Kollegin an eine Brennpunktschule wechseln muss. Die Ungewissheit, wie die Versorgung eigener Kinder, kranker Angehöriger oder die eigene Gesundheit da nicht zu kurz kommen sollen, bereitet große Sorgen. 

Das in den Klassen ein immer schwierigerer Mix an Schülerinnen und Schülern mit oft erheblichen Erziehungsdefiziten, Inklusionsbedarf und Integrationsbedarf einen wachsenden Rückstau an pädagogischer Arbeit entstehen lässt, berichten die Betroffenen glaubhaft und ohne Lösungsperspektive. Nur eins scheint sicher: Die nächsten zusätzlichen Herausforderungen.

 

Manchmal hast Du kein Glück, und dann kommt noch Pech dazu. 

Eins von vielen Lehrerinnenschicksalen in meiner Praxis: Mit Mühe konnte ich eine sehr leistungsorientierte Patientin vor dem Burnout bewahren. Frau M. war langjährig neben der Familienbetreuung als Grundschullehrerin in Teilzeit tätig und ebenso beliebt wie respektiert. Die eigenen Kinder brauchten zwar mit den Jahren weniger Unterstützung, doch dafür wurden Eltern und Schwiegereltern hilfebedürftig. Der Ehemann ist nett und verständnisvoll, jedoch mit einer Selbstständigkeit mehr als ausgelastet, so dass das Meiste an Frau M. hängen bleibt. Ein Modell, das viele Familien noch so leben. Das alles ging gut, bis in kurzer Zeit die Rektorin ihrer Grundschule längerfristig krank wurde und kurz darauf die Stellvertreterin. Als die Schulrätin Frau M. verpflichtete, die Leitung der Schule kommissarisch zu übernehmen, fiel auch noch der Hausmeister aus und die Schulsekretärin kündigte in dem Chaos und baute mit sofortiger Wirkung Überstunden und Resturlaub ab. Unglaublich war, dass Frau M. wirklich keinerlei Unterstützung „von Oben“ zur Erledigung dieser Herkulesaufgabe bekam. Vor dort kamen nur Anforderungen und Ermahnungen, was zu erledigen sei. 

Frau M. wurde erst immer fleißiger, dann immer erschöpfter, bis sie schließlich zusammenbrach. Aus einer selbstbewussten, erfahrenen, lebenslustigen tollen Lehrerin hatten die Schule und die Schulrätin in etwa 5 Monaten eine Patientin gemacht, die alle Kriterien einer mittelgradigen Depression erfüllte.

Das macht einen sprachlos. Erst mit massivem Druck ist es Frau M. gelungen, die Schule zu wechseln. Dort ist sie wieder in der Form beschäftigt, wie sie es arbeitsvertraglich vor Jahren vereinbart hatte. Sie steht wieder gerne vor der Klasse, ist beliebt und hat ihren Esprit und Ihre Lebensfreude zurück. Eine Lehrerin, wie man sie sich für seine Kinder wünscht. Sie hat es gerade noch einmal so geschafft. Ein einzelner Glücksfall. Viele Lehrerinnen haben weniger Glück und werden in ihr Burnout getrieben, finden keine Unterstützung, keinen Ausweg. Endstation Frühpensionierung. 

 

Was kann man gegen Burnout bei Lehrerinnen tun? - Kann man überhaupt etwas gegen Burnout bei Lehrerinnen tun?

Das ist natürlich keine leichte Frage, sonst wäre das Problem vermutlich auch schon gelöst. Es macht an der Stelle Sinn, aus verschiedenen Perspektiven auf das Problemfeld zu schauen und zu überlegen, was helfen kann. Dazu ein paar Anregungen:

 

Als Lehrerin - würde ich…

… Grenzen klar machen. Und zwar mir selbst, meiner Schule, den Eltern und den Kindern. Was kann ich schaffen? Wo ist die Grenze der Leistungsfähigkeit? Wie viel Kraft habe ich noch?

… lernen zu akzeptieren, dass ich es nicht allen recht machen kann. Je mehr ich das versuche, desto mehr werde ich mindestens eine Person massiv vernachlässigen: mich selbst. 

… nicht alles und Jeden retten wollen. Auch wenn es hart klingt, wir sind längst über den Punkt, an dem alle Schülerinnen und Schüler so versorgt werden können, wie es optimal wäre.

… eine „not-to-do-Liste“ anlegen und die fünf Dinge darauf schreiben, die mich am meisten belasten und gleichzeitig nicht notwendig sind. Zum Beispiel abends auf Emails antworten. Diese Liste ist dann täglich abends als Checkliste zu betrachten und als Ziel für den kommenden Tag.

… Achtsamkeit trainieren. Auch wenn der Begriff etwas abgenutzt wirkt: Achtsamkeit ist das, was vielen Menschen zunehmend verloren geht. Dadurch werden die oben beschriebenen Prozesse ermöglicht und beschleunigt. 

… Selbstliebe trainieren. Die ist gerade bei vielen Lehrerinnen in den letzten Jahren zunehmend „auf der Strecke geblieben“. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Gerne zeige ich Betroffenen ein Bild von St. Martin und ermutige dazu, den halben Mantel zu behalten. „Reicht immer noch, um berühmt zu werden“, sage ich dann mit einem Augenzwinkern. 

… versuchen, mich nicht (mehr) von Ferien zu Ferien zu schleppen. Denn das war schon vor der Pandemie bei vielen Lehrerinnen eine häufige Strategie. Das ist nicht empfehlenswert, weil es nicht langfristig funktioniert. 

… mir klar machen, dass ich nicht das Problem bin, sondern das Problem habe. Und dass bei mir weder Schuld noch Schande zu suchen sind. 

… mir rechtzeitig Hilfe holen, wenn ich alleine keine Besserung der Situation erreichen kann.

Natürlich gibt es bestimmt noch viel mehr kluge Ideen, die Lehrerinnen zu empfehlen sind. Das ist nur das, was ich im Alltag in der Praxis rate.

 

Als Schulleiter - würde ich…

… meine Rolle in der aktuellen Lage wie die eines leitenden Notarztes bei einem Großschadensereignis sehen. Konkret bedeutet dies: In einem Missverhältnis von Ressourcen und Bedürfnissen eine möglichst für alle Beteiligten gute Lösung zu finden. Gleichzeitig heißt das auch: „nach Oben Rückmeldung geben und Verstärkung anfordern“. Den täglichen Katastrophenfall irgendwie zu bewältigen ist fast unmöglich, auch das würde ich mir klar machen und zugestehen. Das ist keine leichte Aufgabe, ich habe zehn Jahre als leitender Notarzt gearbeitet. 

… deutlich nach „oben“ signalisieren, welches Maß die Überlastung an meiner Schule aktuell hat, was fehlt und was wir deshalb aktuell nicht leiten können. 

… auf aktuell unnütze und nicht erfüllbare bürokratische Dinge hinweisen und die Befreiung von diesen einfordern.

… mit meinen verbliebenen Kolleginnen und Kollegen eine Priorisierung der Aufgaben vornehmen und offen kommunizieren.

… versuchen, alle an den richtigen Platz zu stellen und alle am richtigen Platz zu halten, bevor Stundenzahlerhöhung und Abordnung krank machen.

… offen fragen: brauchen wir - um im Bild des leitenden Notarztes zu bleiben - eine „Bildungs-Triage“?

… dafür eintreten, dass Schulleiter auch die nötigen Befugnisse und Ressourcen bekommen. Aktuell ist die Lage eine undankbare „Sandwich-Position“, was dazu führt, dass sich diese Positionen auch immer schwerer besetzen lassen. Man könnte auch sagen: Wer meint, dass ein Schulleiter eine Schule leitet, meint auch, dass ein Zitronenfalter Zitronen faltet. Mehr Steuerung auf lokaler Ebene, mehr Befugnisse und Spielraum bei weniger Bürokratie waren in der Pandemie im medizinischen Bereich die Gründe für funktionierende Strukturen. Warum probieren wir das nicht im Schulbetrieb? Die landesweite Steuerung ist lange schon dysfunktional...

 

Als Eltern sollten wir…

… uns die Situation bewusst machen. Es geht so nicht mehr weiter. Schule ist am Limit. Oder schon drüber. Wir müssen für bessere Schulbedingungen einstehen, statt noch mehr von den Lehrerinnen und Lehrern zu fordern. 

… Anspruch und Machbarkeit abgleichen. Wenn die Bedingungen sich derart verändern, sinkt die Qualität der Versorgung. Wenn wir damit nicht einverstanden sind, ist die Politik unser Ansprechpartner, nicht die Schule, erst recht nicht die einzelne Lehrerin. 

… Lehrerinnen und Lehrer unterstützen, wo es nur geht. Das hat in vielen Bereichen in der Pandemie geklappt und wir sollten im Interesse unserer Kinder helfen, wo es geht, bis der Rahmen für eine gute Schulbildung von Politik und Verwaltung hergestellt ist. 

 

Als Politiker - würde ich…

… schauen und nachfragen, was an der Basis, an den Schulen los ist.

… dort nachfragen, wo es gut läuft und mich erkundigen, warum es dort gut läuft und was nötig wäre, um es noch besser zu machen.

… auch wenn es ein schwerer Gang wird, dort nachfragen, wo es gerade schlecht läuft und fragen, was gebraucht wird. Präsenz und Solidarität zeigen. 

… immer und überall fragen, wie ich mehr Minuten Lehrerzeit in die einzelnen Klassen bekomme. Diese Frage klingt banal, könnte jedoch über die Zukunft unseres Bildungssystems entscheiden. 

… jede nicht-Unterricht-Aufgabe auf den Prüfstand stellen: was an Bürokratie ist WIRKLICH nötig: alles andere wird für drei Jahre pausiert. Was danach nicht dringend vermisst wurde, fällt dann dauerhaft weg.

… Anforderungen an „Schule“ und „Lehrerinnen“ überdenken und diskutieren. Mit Lehrerinnen und Lehrern und Eltern und Schülerinnen und Schülern.

… sagen „Wer-A-sagt-muss-auch-B-sagen“ - Wenn 100.000.000.000 Euro für die Bundeswehr nötig sind: Wie viele und welche Ressourcen müssen wir bereitstellen, um unseren wichtigsten „Rohstoff Bildung“ fördern zu können?

… mit Lehrerinnen und Lehrern Schule „neu denken“ und beispielsweise einen Arbeitsplatz in der Schule bereitstellen, Arbeitszeiten managen, Lösungen zur Verhinderung von „24/7 Homeoffice“ suchen, „Unterrichtsreihenbibliothek“ online für alle Lehrkräfte zur Verfügung stellen und weitere Möglichkeiten suchen, den Lehrerinnen und Lehrern konkret die Arbeit zu erleichtern.

… Achtsamkeit und Integration und Inklusion in die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer einbringen und Fortbildungen zur Eigenfürsorge flächendeckend anbieten. 

… Dienstsport wie bei der Feuerwehr anbieten, vielleicht sogar darüber nachdenken, Bewegungsangebote verbindlich zu machen.

… mich fragen, ob die eingangs genannten Expertenvorschläge wirklich hilfreich und wertvoll sind. Und ob teuer bezahlte Unternehmensberater gute Experten sind, oder erfahrene Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr davon verstehen. 

Weil ich kein Politiker bin, ist diese Liste so kurz und unvollständig; sie soll nur eine Idee von dem sein, was Politik nun leisten muss.

 

Als Arzt versuche ich…

… Symptome der Betroffenen zu sehen, auch wenn die Praxis voll ist und es sich noch um Frühzeichen handelt. 

… Warnparameter zu diagnostizieren und den Betroffenen die Zusammenhänge frühzeitig und verständlich zu erklären.

… Verständnis dafür zu zeigen, wenn Betroffene nicht mehr so weiter machen können. 

… Beschwerden kurz und präzise somatisch abzuklären.

… den Lehrerberuf als Risikofaktor wahrzunehmen. Wie Zigarettenrauchen für Herzinfarkt. Das ist heute klar und selbstverständlich, war es früher aber nicht.

… Netzwerke parat zu haben und Hilfen so früh zu organisieren, dass wir lange Ausfallzeiten, Dienstunfähigkeit und damit Frühpensionierung verhindern können.

… gefährdete Patientinnen zu identifizieren, ihnen zu erklären wie das alles zusammenhängt, sie dadurch bereits zu entlasten, wenn nötig etwas zu coachen. Das Ziel ist möglichst früh präventiv tätig zu werden und möglichst wenig kurativ behandeln zu müssen.

… Empowerment auf die Fahne zu schreiben. Es geht um jede einzelne Lehrerin und jeden einzelnen Lehrer! Stehen Sie auf und ändern das, was Schule und Sie krank macht!

 

Zum Schluss ein ehrlicher Rat und eine Bitte an die Politik: Arbeiten Sie bitte mit Unterstützung statt mit Druck. Denn Druck erzeugt Gegendruck und keine Lösungen. 

Bildung ist unser einziger Rohstoff, unsere Zukunft. 

Arbeiten Sie mit aller Klugheit und Kraft daran, dass Lehrerin der beste Beruf in Deutschland ist. 

... nach Ärztin natürlich ;-)

Wie sieht es bei mir aus? Brauche ich Hilfe? Ist es noch Erschöpfung, oder schon Burn-out oder Depression?

Fast immer fällt es den Betroffenen schwer (ein-) zu sehen, dass sie Hilfe brauchen. 

Zwei wichtige Instrumente helfen Ihnen dabei, Ihre Situation besser einzuschätzen. 

Mit dem WHO-Selbsttest Depression und dem Maslach Burnout Inventory (MBI) liegen zwei verlässliche Selbsttests vor, die Ihnen einen orientierenden Überblick über Ihre psychische Situation ermöglichen. Diese Tests ersetzen keine professionelle Behandlung. Sie sind bewährte Hilfsmittel, um Behandlungsbedarf und ggf. den Verlauf abzuschätzen.

 

Beide Tests haben wir für Sie online gestellt:

Selbsttest Depression der WHO
Mit diesem Selbsttest der WHO können Sie schnell einen Überblick über Ihre psychische Situation bekommen und abschätzen, ob Sie Hilfe aufsuchen und annehmen sollten.
Praxis Drususallee - WHO-Selbsttest Depr[...]
PDF-Dokument [112.7 KB]
Maslach Burnout Test
Mit diesem Selbsttest können Sie schnell einen Überblick über Ihre Belastungen und deren Auswirkungen auf Ihre psychische Situation bekommen und abschätzen, ob Sie Hilfe aufsuchen und annehmen sollten.
Praxis Drususallee - Burnout-Test.pdf
PDF-Dokument [115.1 KB]

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